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Rosanna Graf 

Ordinary Women – Carrier Bags of Friction

Rosanna Graf, Ordinary Women – Carrier Bags of Friction, 2023, Installationsansicht Kunsthaus Hamburg 2023, © VG Bild-Kunst Bonn, 2023, Fotos: Antje Sauer


Rosanna Graf
Ordinary Women – Carrier Bags of Friction

11. November 2023 – 7. Januar 2024
Kunsthaus Hamburg


Die rätselhaften Welten, die Rosanna Graf (*1988, München) in ihren Werken erschafft, bergen stets das Potenzial, Unbehagen hervorzurufen. In ihrer künstlerischen Arbeit untersucht sie kollektive Fantasien und verknüpft alte und neue Mythen zu spekulativen Fiktionen. Feministische, nicht-menschliche und groteske Charaktere rückt sie als Projektionsfiguren ins Zentrum. In surrealen, aus dem Raum-Zeit-Kontinuum gelösten Zwischenwelten kämpfen diese Randgestalten gegen ihre Stereotypisierung an. Für die Ausstellungshalle des Kunsthauses produzierte die Künstlerin die raumgreifende 4-Kanal-Videoinstallation Ordinary Women – Carrier Bags of Friction. Weibliche Wut ist das zentrale Element dieses neuen Werkkomplexes, der lang tradierte Rollenmuster dekonstruiert und zahlreiche Bezüge zu Film, Literatur und Medien herstellt.

Schon von Beginn an wecken die fragmentarischen Szenen Assoziationen zum Genre des Horrorfilms und zu fantastischer Literatur: Vier Frauen werden von einer fünften in einen nicht klar definierbaren Raum gelockt, der dem genreklassischen Spukhaus verwandt zu sein scheint. Gemeinsam begeben sie sich auf eine Erkundungsreise dieses liminalen Ortes. Dabei treten gesellschaftliche Regeln und Normen nach und nach außer Kraft. Viele der Protagonistinnen sind inspiriert durch Frauen, die in den 70er Jahren und darüber hinaus großes mediales Aufsehen erregten. Akteurinnen wie die RAF-Terroristin Susanne Albrecht, die deutsch-bolivianische Guerilla-Kämpferin Monika Ertl oder die Schauspielerin Ingrid van Bergen schockierten mit Rache, Mord und Widerstand. Referenzen zu diesen Vorbildern lassen sich durch die Kostüme und Texte der Figuren erkennen. Eine rezitiert aus dem „Manifest der Gesellschaft zur Zerstückelung der Männer“ – dem S.C.U.M. Manifesto der US-amerikanischen Radikalfeministin Valerie Jean Solanas, die wenige Monate nach der Veröffentlichung Andy Warhol durch einen Schuss schwer verletzte. Eine andere proklamiert ihre Visionen, ähnlich der Märtyrerin und französischen Nationalheldin Jeanne d’Arc. Spirituell gelenkt wird die Gruppe von einer Hexe, die von Rosanna Graf selbst gespielt wird. Ihre Verheißung, die Frauen von ihren unkontrollierten Emotionen zu reinigen, löst sich jedoch nicht ein. Durch bewusste Provokation eskaliert die Wut der Antiheldinnen: Sie schreien, schlagen, toben und verfallen in eine kollektive Ekstase. Ihr Blick fällt dabei unweigerlich auf uns zurück.

Während das Klischee der zornigen, unzurechnungsfähigen und hysterischen Frau noch immer existiert, wird Wut bei Männern nicht als Tabu gewertet, sondern als Gefühl von Moral. Als Reaktion auf dieses Paradoxon macht Rosanna Graf weibliche Wut zur transformativen Kraft. Gegen mediale Autoritäten, weiblich konnotierte Klischees sowie überholte Zuschreibungen bekräftigt sie eine selbstbestimmte Weiblichkeit. Mit der Symbolfigur der Hexe greift die Künstlerin die seit Jahrhunderten währende Stigmatisierung eigenständiger Frauen auf und zieht Parallelen zur Gegenwart. Seit dem Mittelalter und sogar bis heute werden Personen, denen man Zauberkräfte zuspricht, denunziert, verfolgt und ermordet. Rosanna Graf konterkariert das männlich dominierte, mechanistische Weltbild, dem diese Diskriminierung entspringt, durch spirituelle Motive wie das der Alraune. Um diese Heilpflanze, die Mythen zufolge magische Wurzeln besitzt, ranken sich unzählige Geschichten. Mit ihrem ohrenbetäubenden Schrei wird sie im Video zum Symbol der Selbstermächtigung.

Unterdessen verweist der Ausstellungstitel wortspielerisch auf die feministische Technologiegeschichte der visionären Science-Fiction Autorin Ursula K. Le Guin. In ihrem 1986 erschienen Essay The Carrier Bag Theory of Fiction stellt sie anstatt linearer Heldengeschichten, Tragebehältnisse von Sammlerinnen in den Mittelpunkt des Erzählens, die für den Lebensunterhalt der Gemeinschaft sorgten. Was also, wenn die primären Erfindungen der Menschheit nicht phallische Jagd- und Kampfwaffen waren, sondern carrier bags – einfache Behälter, wie der Korb mit wildem Hafer oder ein Medizinbündel? In Anlehnung daran werden die klischeebehafteten Handtaschen der „ganz normalen Frauen“ im Video zu Symbolen eines unterdrückten Potentials. Was passiert, wenn wir uns unserer Wut vollkommen hingeben? Welche Grenzen können überschritten, welche Systeme ins Wanken gebracht werden, wenn wir zusammen die Stimme erheben? Es sind Narrative, die bestimmen, wie wir auf die Welt blicken und diese deuten.

Besetzung: Ella Fleck – The Actress, Rosanna Graf – The Antagonist, Sophia Kennedy – The Journalist, Cristina Negucioiu – The Saint, Paulina Nolte – Mädchen, Jasmin Truong – Inkognito

Kamera: Levente Pavelka, Goscha Steinhauer, Musik: Sophia Kennedy, Kostüm: Leonie Falke, Tonmischung: Nikolaus Graf, Assistenz: Laurens Maria Bauer, Laura Franzmann, Szenographie: Jakob Engel, Rosanna Graf, Dank an: Studio Mondial, Konrad Baumann

Kuratiert von Anna Nowak


Rosanna Graf (*1988, München) studierte Bildende Kunst an der HFBK Hamburg und am Goldsmiths, University of London. Ihre künstlerischen Arbeiten wurden gezeigt u. a. im Kunstraum Kreuzberg, Berlin (2020); den Deichtorhallen Hamburg / Sammlung Falckenberg (2019), im Kunsthaus Hamburg (2019); den Jahresgaben des Kunstverein München (2017) und in der Galerie Conradi, Hamburg (2016) gezeigt. Sie ist Teil des Performance-Kollektivs DOLLHOUSES.


Eröffnung
Freitag, 10. November 2023, 19 Uhr
Einführung Anna Nowak (Kunsthaus Hamburg)
Ab 21 Uhr: DJ-Set von Internet Offline

Ausstellungsrundgänge
Donnerstag, 16. November 2023, 17 Uhr
Samstag, 9. Dezember 2023, 17 Uhr
Mittwoch, 3. Januar 2024, 18 Uhr

Rahmenprogramm
Freitag,  15. Dezember 2023, 18 Uhr
Künstlerinnengespräch mit Rosanna Graf, Sophia Kennedy & Anna Nowak

Samstag, 16. Dezember 2023, 11-12:30 Uhr
Workshop für Kinder (8-13 Jahre), 5€
Anmeldung: register@kunsthaushamburg.de

Sonntag, 7. Januar 2024, 16 Uhr
Finissage & Lecture Performance mit Rosanna Graf


Mit freundlicher Unterstützung von

Port Fiction – Webseitenpräsentation

Eine Produktion von Moritz Frischkorn in Zusammenarbeit mit IMAGINE THE CITY
Zu Gast im Foyer des Kunsthauses

Bild: PORT FICTION, Webseite, Ausstellung, Veranstaltungsreihe, Beirut/Hamburg 2023, Foto: © Siska


Port Fiction
Webseitenpräsentation
Eine Produktion von Moritz Frischkorn in Zusammenarbeit mit IMAGINE THE CITY
11. November – 9. Dezember 2023

Zu Gast im Foyer des Kunsthaus Hamburg
Freier Eintritt


Im August 2020 zerstört eine gewaltige Explosion den Hafen von Beirut und verwüstet große Teile der Stadt. Fast 300 Menschen werden getötet, weitere 300.000 verlieren ihr Zuhause. Beim Wiederaufbau der Stadt wird die libanesische Bevölkerung von der politischen Elite alleine gelassen. In der Folge verschlechtert sich die Lebenssituation auf Grund von Hyperinflation und der Covid-Pandemie weiter. Bis heute wurden keine Verantwortlichen ermittelt.

Das interdisziplinäre künstlerische Forschungsprojekt PORT FICTION beschäftigt sich mit dem Verhältnis der Hafenstädte Beirut und Hamburg. Nach der Explosion begann eine Gruppe von Künstler*innen aus beiden Städten, ihre persönli­chen Beziehungen zum Hafen zu untersuchen. Ausgehend von der Erkenntnis, dass die Orte nicht vergleichbar sind, fragten sie dennoch: Wie sind sie miteinan­der verbun­den, wo berühren sie sich?

PORT FICTION ist zugleich ein Modellprojekt für die Komposition von künstlerischen Beiträgen in Form eines digitalen Long Read. Auf der multimedialen Webseite werden die Arbeiten der beteiligten Künstler*innen zu einem komplexen Erzählstrang verwoben. Das Projekt ist auch unter www.portfiction.com zugänglich.

Von und mit: Myriam Boulos (Fotografie), Moritz Frischkorn (Text), Robin Hinsch (Fotografie), Ibrahim Nehme (Text), Siska (Fotografie, Video), Nour Sokhon (Sound Design, Komposition), Kolja Warnecke (Webdesign)
Dramaturgische Unterstützung: Kaya Behkalam und Katharina Joy Book

Mehr Informationen zum Programm unter: www.imaginethecity.de


PORT FICTION ist eine Produktion von Moritz Frischkorn in Zusammenarbeit mit IMAGINE THE CITY und dem Kunsthaus Hamburg. Das Projekt wurde gefördert vom Fonds Darstel­lende Künste aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Rahmen von NEUSTART KULTUR. Ausstellung und Veranstaltungsreihe werden ermög­licht durch den Susanne und Michael Liebelt Stiftungsfond unter dem Dach der Hamburgi­sche Kulturstiftung e.V.

Jil Lahr

Sticky Business


Jil Lahr
Sticky Business

Ab 11. November 2023
Kunsthaus Hamburg


Wie in den Kuriositätenkabinetten aus der Frühphase der Museumsgeschichte vermischt Jil Lahr Objekte unterschiedlicher Herkunft und Bestimmung zu raumgbezogenen Installationen. Dabei greift sie auf ein umfangreiches Sammlungskonvolut zurück. Aus ihrem ursprünglichen Kontext entnommen, lösen die Gegenstände des globalen Alltags neue Assoziationen aus, die oftmals das Skurrile und Humorvolle der Massenprodukte offenlegen. Durch die Verschiebung aus dem herkömmlichen Gebrauchskontext thematisiert die Künstlerin das westliche Konsumverhalten und verweist auf die Unterhaltungskultur.

Für die Toiletten des Kunsthauses hat Jil Lahr die dauerhafte Installation Sticky Business entwickelt. Intuitiv gestaltete sie die Räume mit Aufklebern, die Steine aus ihrem eigenen Archiv zeigen. Die natürlichen, mit persönlichen Erinnerungen aufgeladenen Objekte schweben im Raum und liefern einen augenzwinkernden Kommentar zum funktionalen Interieur.

NEUSPRÉCH

zu Gast im Kunsthaus

© Neuspréch, Foto: Oliver Ross


NEUSPRÉCH
zu Gast im Kunsthaus

29. November 2023 – 25. Februar 2024

Armin Chodzinski, Kyung-Hwa Choi-Ahoi, Rüdiger Frauenhoffer, Jan Köchermann, Peter Lynen, reproducts, Gunter Reski, Ingrid Scherr, Oliver Ross, Aleen Solari, Simon Starke, Andrea Tippel, Jan Voss und Annette Wehrmann


NEUSPRÉCH ist ein Labor für Wortergreifungen. NEUSPRÉCH-Kunst zeigt nicht nur irgendwelche poetischen Wörter, sondern spricht die Lesenden und Schauenden direkt an. Kunstwerke halten Ansprache. Sie sprechen NEUSPRÉCH – mit allem, was sie haben, mit ihrem ganzen Körper, mit der Farbe, mit dem Papier, mit sämtlichen Materialien. NEUSPRÉCH spricht Kunst.

Der titelgebende Begriff NEUSPRÉCH entstammt George Orwells Roman 1984. Doch während dort die diktatorische Instrumentalisierung von Sprache zentral ist, geht es hier um eine Annäherung an die vielfältigen Wechselwirkungen von Sprache und bildender Kunst. In Form von Ausstellungen und zwei Magazinen verortete sich NEUSPRÉCH bisher vornehmlich zwischen den Wahrnehmungsformen des Lesens und Sehens. In Hamburg fügen sich diese Elemente in das öffentlich zugängliche und als Begegnungsraum konzipierte Foyer des Kunsthauses ein und werden anhand von drei Veranstaltungsformaten durch den physischen Akt des Sprechens erweitert.

Die im Foyer präsentierten Arbeiten treten in Dialog miteinander und den Besucher*innen. So wird die Funktion des Raums als Ort für Gespräche und Lektüre gleichermaßen betont und weitergedacht.


NEUSPRÉCH ist ein Projekt der Hamburger Künstler Oliver Ross und Simon Starke, das zuvor bereits im Zentrum für Künstlerpublikationen, Weserburg Museum für moderne Kunst, Bremen (2020) sowie in der Klassik Stiftung, Weimar (2022) gezeigt wurde.