Undisturbed Solitude

Flora Klein, Emil Michael Klein, Tiphanie Mall, Johannes Willi
Kuratiert von Chus Martínez

Fotos: Hayo Heye

Undistrubed Solitude

Eröffnung: 18. Februar, 19 Uhr
es sprechen Katja Schroeder (Kunsthaus Hamburg) und Chus Martínez (Leiterin Institut für Kunst, Basel)
Soundtrack: Olivier Rossel, 20 Uhr

Führungen:
Donnerstag, 25. Februar + 3. März, 18 Uhr
Sonntag, 13. März + 20. März, 15 Uhr

Diese Ausstellung ist eine Übung, die darin besteht, vor Ort eine Situation zu konstruieren, in der die Arbeiten von vier jungen Schweizer Künstlern zu sehen sind, in der aber trotzdem nicht das „Gefühl“ einer Ausstellung entsteht. Dabei geht es uns nicht darum, ein Format aufzubrechen oder ein Experiment zu veranstalten. Es geht um die Möglichkeit das „Material“ unabhängig von der „Präsentation“ zu organisieren. Dennoch wollen wir das Publikum unterhalten. Genau diesen Aspekt der Zwanglosigkeit wollen wir erreichen. In ihm steckt das Potential, um die verschiedenen Beziehungen zu verstehen, die Kunst und KünstlerInnen mit ihrem Material, durch Variationen, Medien und mit Bilder gegenwärtig schaffen. Zwar werden in der Ausstellung kaum technische oder digitale Medien zu finden sein, aber trotzdem geht es darum, sich bewusst zu machen, dass Kunst die Fähigkeit besitzt, die große Spannungsenergie zu absorbieren, die sich zwischen den traditionellen und neuen Formen von Wahrnehmung und Begriffen der Ästhetik täglich um uns herum aufbaut.

Ähnliches passiert mit dem „Sozialen“. Wie interagieren all diese Werke, Objekte und bewegten Bilder mit der Realität? Erst einmal überhaupt nicht und dann eben doch. Eine besondere Aufmerksamkeit richtet sich derzeit auf die Veränderung der Welt, sowohl im ideologischen Sinne, als auch im Hinblick auf den Wandel von Kategorien und Lebensgrundlagen. Diesen Wandel, der so komplex und unmöglich von einer einzelnen Perspektive oder Disziplin aus zu fassen ist, vermag die Kunst zu erschließen. Aber sie tut dies eben nicht in Form einfacher Antworten, die leicht zu begreifen sind, so dass sie ein umfassendes Verständnis von dem, was gerade vor sich geht und was noch auf uns zukommt, vermitteln könnte. In diesem Sinne versteht sich die Ausstellung als Aufforderung, sich auf den künstlerischen Umgang mit Materialien und Ideen in einem vorgegebenem Raum – im Kunsthaus Hamburg – einzulassen.

1988 besuchte der Philosoph Vilém Flusser das Ars Electronica Festival in Osnabrück. In einem Interview, das er in diesem Zusammenhang gab, stellte er fest, wie wenig sich die Welt heute noch mit Worten beschreiben lässt. Flusser erklärt, dass das Alphabet nicht nur eine radikale Erfindung war, die – vor mehr als 3.500 Jahren – den Code für die Beschreibung von Realität lieferte, sondern gleichzeitig die Geburtsstunde der „historischen“ Zeitauffassung markiert. Die Textzeile und die Zeitachse stellen somit eine Analogie dar. Über die Jahrhunderte hinweg entwickelte sich die Logik des Lesens zu einer Logik der linearen Ereignisabfolge. Wir befinden uns, so Flusser, in einer Revolution des Denkens und Kommunizierens, da heute weder Text noch Bild alleine in der Lage sind, die Realität hinreichend zu beschreiben. Die „neue“ Realität, oder Zeit, wenn man so will, braucht eine Sprache, die gleichzeitig bemisst und abbildet, beschreibt und darstellt. Es gibt keine einzige Sprache, Disziplin oder Wissenschaft, die alleine im Stande wäre, sich mit der Welt auseinanderzusetzen. Mit Hilfe von Informationstechnologien, fährt er fort, hat man jahrelang versucht, Codes zu generieren, um die Werkzeuge der nahen Zukunft zu bestimmen. In Einklang mit Flusser möchte ich behaupten, dass eine der wichtigsten Aufgaben von Kultur heute darin besteht, die Beschaffenheit dieser neuen Zeit zu vermitteln, und Fähigkeiten auszubilden, um die Ausbreitung der künstlichen Realitäten zu begreifen.

Wenn es einen Bereich gibt, der sich mit der Praxis und Produktion einerseits und mit einem nachhaltigem Interesse an der linearen und historischen Zeit andererseits beschäftigt, dann ist es das Ausstellungs-Machen. Innerhalb der Parameter des White Cube könnte man behaupten, die Ausstellung wäre wie ein Buch aufgebaut. Und, wie Flusser weiter betonte, ist es das Buch, das wir hinter uns lassen müssen; wir müssen uns von der linearen Präsentation und Erklärung von Kunst verabschieden, von der Logik eines Innen/Außen. In der Tat ist das eine sehr schwierige Aufgabe, die ein gänzlich neues Verständnis für Produktionsweisen als auch für die Erforschung und Präsentation von Raum unter diesen veränderten Voraussetzungen verlangt. Das aktuelle Interesse an unterschiedlichen Arten von Ausstellungen – von der Messe über unzählige Beispiele innerhalb und außerhalb des institutionellen Rahmens bis hin zu wissenschaftlichen und naturhistorischen Ausstellungen – spiegelt das unerfüllte Bedürfnis wider, Auswege aus der Formalisierung künstlerischer Produktion, Präsentation und Rezeption zu finden. Unsere Zeit verlangt keine „Nach-Form“, sondern eine greifbaren Methode für eine „Un-Form“. Es ist bekannt, dass wir eine ästhetische Grundvoraussetzung über Bord werfen müssen: die Distanz, welche die Kunst von Institutionen, Betrachter*innen und Künstler*innen trennt. Das jedoch setzt eine Nähe voraus, und eine beispiellose Vermischung von Substanzen, die so lange voneinander getrennt waren, dass es neue Organe dafür braucht; daraus ergibt sich eine komplett neue Theorie von der Relevanz der Sinne; eine Epistemologie, die es noch zu erfinden gilt. Aus diesem Grund glaube ich sowohl an die Rückkehr experimenteller Bedingungen als auch an die Verabschiedung von der „Mittelschicht“ als den universellen Adressaten unserer Aktivitäten. Ersteres ist einfach zu benennen, aber dennoch schwer zu realisieren, weil wir mehr an den Schritten interessiert sind, die zu Ergebnissen führen, als an den „Essenzen“ und Kräften, die Experimente ermöglichen. Ich bin überzeugt, dass die Ausstellung jener Ort ist, der langfristig die Kapazität besitzt, um experimentelle Bedingungen zu schaffen.

Der zweite Vorschlag – die Verabschiedung von der Mittelschicht – mag hingegen etwas polemischer klingen, aber ist nicht weniger nötig als der erste. „Verabschieden“ soll nicht als Missachtung oder fehlende Wertschätzung missverstanden werden. Ganz im Gegenteil: Es ist die große Last der Demokratie, die auf der „Mitte“ liegt, auf dem Bürger, den es zu entlasten gilt. Daraus folgt die Entwicklung von Projekten, die aktiv nach einer anderen Art von Beziehungen zwischen Gesellschaft und Kunst suchen und sich von der Idee der Legitimation unterscheiden. Ich denke dabei an zwei mögliche Methoden, die sich anbieten. Eine besteht in einer aktiveren Nutzung von Laboren, Hochschulen und Institutionen, die keine Erwartung an einen direkten Zusammenhang zwischen ihrer Tätigkeit und deren Betrachtung hervorrufen. Die andere Methode besteht in der Entwicklung von Projekten mit Künstlern und Kulturagenten, die die gegebenen Strukturen gemeinsam mit Jugendlichen und Kindern als Teil des Sozialen nutzen. Ein radikaler Weg, um unsere ureigenen Institutionsstrukturen zu „ent-formen“, besteht darin, sie völlig anders zu nutzen und mit Arbeitsmethoden zu konfrontieren, die nicht vorhersehbar sind und bestehende Modelle des Ausstellens und der Kulturproduktion auf eine produktivere Basis stellen.

Chus Martínez, Januar 2016

Mit freundlicher Unterstützung

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